Interview mit Prof. Dr. Joachim Gardemann von der Fachhochschule Münster zu den Herausforderungen der Naturkatastrophe auf den Philippinen

Münster (14. November 2013). „Haiyan" ist über die Inseln der Philippinen hinweggefegt. Der stärkste Taifun, der jemals auf Land getroffen ist, hat bereits tausende Menschen das Leben gekostet und hunderttausenden die Behausung geraubt.

Im Interview beantwortet Prof. Dr. Joachim Gardemann Fragen zu den Herausforderungen, die bei Naturkatastrophen auf Betroffene und Helfer zukommen.

Welche Hilfsorganisationen sind derzeit im Katastrophengebiet vor Ort und von welcher Seite können die Menschen auf Hilfe hoffen?

Zunächst einmal sind die wichtigsten und zahlreichsten Helfer und Retter immer die Überlebenden. Jede Wiederbelebung muss innerhalb weniger Minuten erfolgen, daher haben ausländische Helfer hierzu überhaupt keine Möglichkeit. Alle Erfahrungen aus vergangenen Katastrophen haben gezeigt, dass die weitaus größte Zahl geretteter Menschenleben den Überlebenden zu verdanken ist. Daher kommt auch der vorausschauenden Katastrophenhilfe, etwa durch Ersthelfer- oder Rettungsschwimmerschulungen, eine überragende Bedeutung zu. Zunächst sind dann lokale und nationale Katastrophenschutzbehörden zuständig sowie vor Ort ansässige Hilfsorganisationen.
Auf den Philippinen spielt hierbei traditionell die katholische Kirche eine wichtige Rolle, aber auch das Philippinische Rote Kreuz, die Malteser und viele andere. Durch zahlreiche Projekte der Entwicklungszusammenarbeit auf den Philippinen und aufgrund der Erfahrungen nach früheren Stürmen oder Erdbeben, etwa auf den philippinischen Inseln Mindanao und Bohol, sind zahlreiche internationale Organisationen bereits länger vor Ort und verfügen dort über eine gefestigte und belastbare Logistik und Infrastruktur.
In jedem Land spielt bei Krisen und Katastrophen daneben das Militär eine bedeutsame Rolle, denn keine andere Organisation verfügt auch nur annähernd über so viele Transportmöglichkeiten zu Lande, Wasser oder in der Luft. Völkerrechtlich ist gegen einen Einsatz militärischer Hilfseinheiten nichts einzuwenden, wenn das entsendende Land nicht selbst an einem Konflikt im betroffenen Gebiet beteiligt ist.

Wie läuft beim Internationalen Roten Kreuz die Entscheidung über einen Einsatz und die anschließende Planung üblicherweise ab?

Die Koordination im Konfliktfall übernimmt das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK), im Fall von Naturkatastrophen ist die Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC), beide mit Sitz in Genf, zuständig. Die Hilfeersuche betroffener Länder werden dort abgestimmt und Aufgaben an entsprechend ausgestattete Rotkreuz- oder Rothalbmondgesellschaften erteilt. So verfügt das Deutsche Rote Kreuz (DRK) beispielsweise über große Feldkrankenhäuser, Gesundheitsposten und Wasseraufbereitungsanlagen, die von Berlin-Schönefeld aus an jeden Punkt der Welt verbracht werden können.

Nach welchen Kriterien wählen die Organisationen ihre Einsatzkräfte aus?

Neben einer fundierten beruflichen Erfahrung, etwa zum Handwerksmeister, zur Krankenschwester oder zum Facharzt, müssen die Einsatzkräfte vorab eine mehrwöchige Ausbildung durchlaufen haben. Hier werden sie zum Beispiel in Fragen des humanitären Völkerrechtes, der Einsatztechnik und -logistik sowie der Tropenhygiene und ähnlichem geschult.

Wie kooperieren die verschiedenen Hilfsorganisationen miteinander?

Bei Naturkatastrophen liegt die Einsatzkoordination natürlich in der Hand der lokalen Katastrophenschutzbehörden. In Kriegssituationen können notfalls auch die Vereinten Nationen diese Aufgaben mit einer eigenen Unterorganisation, der UNOCHA, übernehmen. Daneben verfügen weltweit vertretene Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Johanniter, Caritas oder das Rote Kreuz über eigene internationale Koordinationsstrukturen. Am Einsatzort selbst finden ständige Abstimmungstreffen zwischen den Hilfsorganisationen, den lokalen Behörden und den internationalen Organisationen wie etwa der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder dem Kinderhilfswerk UNICEF statt.

Was sind die größten Herausforderungen bei einer Naturkatastrophe wie dieser?

Menschen brauchen Luft innerhalb von Sekunden, Wasser innerhalb von Stunden und Nahrung innerhalb von Tagen.
Nach der Akutphase mit Rettung, Bergung, Behandlung, Betreuung und Verpflegung der Betroffenen sind Maßnahmen der Kommunalhygiene vordringlich - zu diesen zählen zum Beispiel die Abwasserentsorgung, der Schutz vor Mücken, die Bekämpfung von Ratten sowie Impfungen und Programme für Mutter und Kind. Neben diesen gesundheitlichen Aspekten sind insbesondere der Erhalt staatlicher Ordnung sowie das Vorgehen gegen Plünderungen und Gewalttaten sehr wichtig.

Wie lassen sich die Hilfsmaßnahmen und die logistischen Abläufe bei einer derartig zerstörten Infrastruktur organisieren?

Alle ankommenden Organisationen und Helfer müssen vollkommen unabhängig und autark sein, damit sie der ohnehin geschwächten Infrastruktur nicht noch zusätzlich zur Last fallen. Das heißt: Eigene Trinkwasserversorgung, eigene Telekommunikation, eigene Verpflegung, eigene Stromversorgung, eigene Transportkapazitäten und eigene ärztliche Versorgung für die Einsatzkräfte sind mitzubringen.
Ankommende Flugzeuge müssen unbedingt ausreichend Treibstoff für den Rückflug oder zumindest den Anflug zu einem nicht betroffenen Flughafen mitführen, damit nicht Hilfsflugzeuge ohne Sprit die Landebahnen blockieren.

Wann besteht Seuchengefahr, wie wirkt man ihr entgegen und welche Gefahr geht von den Leichen im Gebiet aus?

Seuchengefahr besteht dann, wenn die kommunalhygienischen Infrastrukturen wie Wasser- und Abwasserleitungen zerstört sind. Leichen stellen nach ausführlichen Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation hierbei kein nennenswertes gesundheitliches Risiko dar, sie sind allerdings eine große Belastung für die psychische Gesundheit der Überlebenden. Die Toten sollten daher gemäß der lokalen Bestattungskultur würdevoll behandelt werden. Von einer übereilten Massenbeseitigung der Leichen durch Verbrennen oder Verscharren ist daher unbedingt abzuraten.
Dazu ein Beispiel: Die Choleraepidemie nach dem Erdbeben in Haiti 2010 ging nicht von den dort vorhandenen Leichen aus, sondern ließ sich nach Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation auf einen einzelnen äußerlich gesund wirkenden UN-Soldaten zurückführen, der die Keime in seinem Körper in das Land importiert hatte. Aufgrund der zerstörten Infrastruktur kam es dann durch eine Verseuchung des Trinkwassers zum Choleraausbruch. Dieser Fall zeigt deutlich, dass auch die Cholera in der Regel nicht von Toten, sondern von Lebenden verbreitet wird.
Ganz unabhängig von der Anzahl der Leichen hat also immer die Sicherstellung einer hygienisch einwandfreien Trinkwasserversorgung und Fäkalienentsorgung in jedem Katastrophengebiet oberste Priorität.

Welche Konflikte drohen bei Hilfe von außen?

Im Münsterland haben wir im November 2005 heftige Schneefälle mit großflächigen Stromausfällen erlebt, über die auch in den internationalen Medien berichtet wurde. Was hätten wir wohl gesagt, wenn damals eine ausländische Hilfsorganisation mitten in unserer Stadt eine Zeltklinik eröffnet hätte und mit medizinischen Behandlungen begonnen hätte, um uns zu helfen? Eigentlich sollten Hilfswillige zuerst einmal auf eine Anforderung warten und sich dann zunächst bei den lokal zuständigen Stellen melden und registrieren lassen. Das verlangt doch schon alleine der Respekt vor der Würde der Betroffenen!

Wie schützen sich die Helfer selbst, etwa vor Seuchen, Plünderern oder Überfällen?

Eine fundierte berufliche Erfahrung, eine gründliche Ausbildung zukünftiger Helfer vor der Entsendung und die Beachtung der humanitären Grundprinzipien der Menschlichkeit, Unparteilichkeit und Neutralität im Einsatz stellen den bestmöglichen Schutz dar.

Wie werden voraussichtlich die nächsten Monate ablaufen?

Die humanitäre Hilfe sollte sich keineswegs nur auf akute Rettungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen beschränken, sondern die jetzige tragische Situation zum Anlass nehmen, im betroffenen Gebiet eine nachhaltig wirksame Struktur eigener Frühwarn- und Rettungssysteme auf- und auszubauen - im Fachjargon sprechen wie hier von „emergency preparedness".

Welchen Beitrag kann der Einzelne leisten, der die Katastrophe in den Medien verfolgt hat und nun helfen möchte?

Willkommen sind Spenden aller Art, die nicht zur Belastung der vorhandenen Strukturen führen - das heißt, nützlich sind im Wesentlichen Geldspenden an die professionellen Hilfsorganisationen. Sach- und Medikamentenspenden von privaten Gebern sind normalerweise nicht hilfreich und oft sogar belastend für die Arbeit in den betroffenen Gebieten. Private Kontakte zu Personen in betroffenen Regionen können und sollten aber durchaus zur zielgerichteten Überweisung von Geldmitteln genutzt werden.
Persönliche Hilfsleistungen sollten hingegen nur professionell ausgebildete Einsatzkräfte der dort tätigen Hilfsorganisationen leisten, auf keinen Fall sollten Hilfswillige jetzt spontan und auf eigene Faust in das betroffene Gebiet reisen! Solche sicherlich gut gemeinten Aktionen sind sehr gefährlich und enden oft mit Erkrankungen, wodurch diese Personen dann die lokalen Einrichtungen des Gesundheitswesens noch zusätzlich belasten.
Zuletzt möchte ich betonen, dass wir - bei aller berechtigten Betroffenheit über die schreckliche Tragödie auf den Philippinen - auch die anderen Krisenherde und Katastrophengebiete der Welt nicht vergessen sollten: In Syrien beispielsweise stehen wir weiterhin vor einer enormen humanitären Herausforderung.


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